Trennende Geschichte – geteilte Gegenwart
Studienfahrt nach und Austausch mit Warschau
Etwas außer der Reihe, verglichen mit den anderen Fahrten, machte sich das Seminarfach „Europe“ (Jg. 13) unter der Leitung von Herrn Tomhave noch in den Herbstferien auf den Weg nach Polen, zunächst nach Breslau, dann nach Warschau um eine sehr gelungene Hinbegegnung mit den SchülerInnen der Partnerschule zu erleben. Der Austausch wird finanziell sehr großzügig vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk unterstützt und hatte einen deutlichen historischen Schwerpunkt.
Da das niedersächsische Schuljahr sehr früh begann und die eigentlich Studienfahrtwoche noch vor Ende der polnischen Sommerferien lag, mussten wir auf die Zeit nach den Herbstferien warten, bis es endlich losging – wie allerdings schon befürchtet mit ordentlich Verspätung bei der Anreise nach Breslau mit der Bahn, wo wir die polnischen Gastgeber aus Warschau zunächst trafen, um gemeinsam mit ihnen die Stadt und vor allem ihre Geschichte zu erkunden. Für die Verspätung entschädigte Breslau, richtiger heute Wroclaw, dann aber mit zwei Tagen strahlender Sonne und fast T-Shirt-Wetter. Auf verschiedenen Führungen durch die Großstadt in Schlesien ging es vor allem um die wechselhafte Geschichte der Stadt, zunächst launig, wenn es um das Mittelalter ging, dann doch ernster, wenn wir im Stadtteil Nadodrze die Geschichte der „Festung Breslau“ – der irrsinnige Versuch des Stadtkommandanten die Stadt am Ende des Zweiten Weltkrieges auf jeden Fall zu halten – die folgende Zerstörung der Stadt, Vertreibung und Flucht der deutschen Bevölkerung und die Neubesiedlung durch die umgesiedelten Polen aus dem Osten thematisierten. Spannend ist, dass die jüngere Generation sich offener im Umgang mit der deutschen Geschichte der Stadt zeigt, während im Polen nach dem Krieg alle Hinweise auf Vergangenheit getilgt wurden. So werden heute mehr und mehr deutsche Spuren, vor allem in Nadodrze, bei Sanierungen offengelegt und konserviert.
Heute ist Wroclaw eine dynamische polnische Großstadt, die eine bezaubernde wiederaufgebaute Altstadt besitzt und größtenteils zu Fuß ergangen werden kann. Auf dem Weg trifft man immer wieder auf unzählige Zwerge, mit denen sich die Menschen die Stadt teilen. Warum? Sie waren ursprünglich Zeichen der „Orangen Alternative“, einer Oppositionsbewegung, die ab 1980 auch mittels der Zwerge den herrschenden Sozialismus kritisierte, und sind heute zu einem der Wahrzeichen der Stadt geworden. So drohen die Zwerge etwa, die Liebesschlösser, die gerne an der zur Kathedrale führenden Dombrücke angebracht werden, gnadenlos zu entfernen.
Am Ende von zwei ereignisreichen Tagen hieß es dann den Transfer nach Warschau anzutreten. Die polnische PKP ließ uns nicht im Stich und so konnte der erste Abend in der Gastfamilie verbracht werden, bevor sich am nächsten Tag nach dem Besuch des Stadtmuseums eine Besichtigung der Altstadt und des neu entwickelten westlichen Weichselufers mit der Silhouette des Nationalstadiums am anderen Ufer anschloss. Wenn man einen Grund braucht, das Stadtmuseum zu besuchen: hier sich das Original der Skulptur des Wahrzeichens der Stadt, die Meerjungfrau, deren Kopie auf dem wiederaufgebauten Marktplatz zu finden ist. Der Legende nach versprach sie die Stadt zu beschützen als Dank für die Befreiung aus einem Fischernetz.
Gegen Abend belohnte der traditionelle Besuch der Aussichtsterrasse des Kulturpalasts, das „Geschenk“ Stalins an die Polen, das mittlerweile doch mehr akzeptiert wird, da es einer Vielzahl von Institutionen eine zentrale Heimat bietet, mit spektakulären Aussichten auf die Boomtown Polens mit vielen Wolkenkratzers im Sonnenuntergang.
Der Schwerpunkt des folgenden Tages lag dann auf der jüdischen Geschichte Warschaus mit einem ausgedehnten Gang über das Gelände des ehemaligen Ghettos, im Moment eine Gedenklandschaft mit Resten der Mauer, einzelnen erhaltenen Gebäuden, Monumenten und auch Ausgrabungen, die das gesamte Erfassen schwer gestaltet. Allerdings wird im Moment gerade ein Museum für die Geschichte des Warschauer Ghettos gebaut. Nach dem erneuten Mittagessen in einer typischen „Milchbar“ – eine Art Kantine, die zur Mittagszeit polnische Hausmannskost zu vertretbaren Preisen anbieten (vor allem Pieroggi und Pfannkuchen wurde entsprechend in allen Varianten durchgekostet) – ergänzte ein geführter Besuch durch das POLIN, dem jüdischen Museum Warschaus, die Beschäftigung mit der langen jüdischen Geschichte in Polen.
Bevor es nach Hause ging, stand am Freitag noch der Besuch im polnischen Parlament, dem Sejm, mit einer launigen Führung, interessanten Traditionen und einer aufgeregten Journalistengruppe in der großen Halle, auf dem Programm. Auch der Besuch im Museum der PRL, der Volksrepublik Polen am „Platz der Verfassung“, an einem Straßenzug, der als Musterbeispiel sozialistischen Bauens nach 1945 gerade dabei ist Weltkulturerbe zu werden, half, das Verständnis für geteilte und trennende Geschichte zu erweitern. Die Führung zeigte nochmals die ganze Gespaltenheit beim Umgang mit der Geschichte: auf der einen Seite eine Gästeführerin, die von einer glücklichen Kindheit im Sozialismus berichtete und die heute fast lustig anmutenden Gegenstände aus dem Sozialismus wie der Polski-Fiat oder die weit verbreitete halbautomatische Waschmaschine. Auf der anderen Seite die Darstellung eines Regimes, das die Freiheit zum Machterhalt einschränkte, Opposition wie die Gewerkschaft Solidarnosc verfolgte und Gegner terrorisiert. Gerade hier wurde deutlich, dass die Freiheit einen Preis hat.
Am Ende mussten sich dann die deutschen von den polnischen SchülerInnen zumindest bis zur Rückbegegnung im November verabschieden. Sie bilden eine außergewöhnlich gut harmonierende Gruppe, was sich auch beim Abschluss in der Roller-Disco Warsaw am letzten Abend nochmal gezeigt hat: vergnügt versuchte man, bei deutscher Musik (!) unnötige Stürze zu vermeiden – zumeist erfolgreich.
Kay Tomhave